Er saß am Fenster und schaute nach draußen. Menschen eilten vorbei, von daheim zur Arbeit, von einem Termin zum nächsten, wieder nach Hause. Auch er war zeitweise einer von ihnen, aber wo es bei allen anderen fokussiert und zielgerichtet zuzugehen schien, herrschte bei ihm Chaos. Zu viele Gedanken, zu viele Ideen, die sich entwickelten, wenn zwei Gedanken kollidierten und etwas neues in seinem Kopf formten. Wohin damit?
Gestern – oder war es erst heute gewesen? – hatte er den Müllbeutel in den Hof gebracht und war an einem Fahrrad vorbeigekommen, dessen Lenker eine ungewöhnliche Form hatte. Das geschwungene Rohr brachte ihn auf die Idee, den angeknacksten Henkel seiner Teekanne durch ein Stück Rohr zu ersetzen, das er über die Bruchstellen stecken konnte. Ein passendes Stück Rohr hatte er, den Geldbeutel hatte er in der Tasche, also machte er sich gleich auf, um Zwei-Komponenten-Kleber zu kaufen. Erst im Drogeriemarkt fiel ihm auf, dass er in den Hauspantoffeln durch die halbe Stadt gelaufen war und die Mülltüte immer noch in der Hand hielt.
Um einen klaren Gedanken zu fassen, musste der Kopf frei sein. Einer plötzlichen Eingebung folgend, stand er auf, prüfte Schuhe und Geldbeutel, nahm den Müllbeutel, der daneben stand, und ging dann zum Schreibwarenladen um die Ecke. Dort kaufte er selbstklebende Notizzettel in verschiedenen Farben. Daheim angekommen, nahm er einen Bleistift zur Hand und begann, seine Gedanken aufzuschreiben, einen nach dem anderen. Die Zettel klebte er an die Wand.
Draußen war es schon dunkel geworden, als er damit fertig war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er Jacke und Straßenschuhe nicht abgelegt hatte. Also schlüpfte er in die Pantoffel und hängte die Jacke an den Haken. Dann widmete er sich wieder seinen Gedanken.
Die Wände waren über und über mit bunten Papierquadraten bedeckt, die er alle beschrieben hatte. Tatsächlich fühlte er sich freier, leichter. Das emsige Summen in seinem Kopf war verstummt, er hatte seine Gedanken woanders. Das Zimmer war jetzt sein Kopf geworden. Er seufzte zufrieden. Ein schönes Gefühl, ganz gedankenlos zu sein.
Langsam schritt er die Wände ab. Nun musste er die Gedanken ordnen, aber wie? Auf einem Zettel stand ›Erbsen‹, weil er gedachte, welche zu kaufen und zu kochen, daneben stand ›verreisen‹. Das passte nicht zusammen. Er nahm die Erbsen von der Wand, um sie zu anderen Nahrungsmitteln zu kleben, die sich auf anderen Notizzetteln befanden. Aber halt: gab es da nicht eine Anekdote von einem gewissen Baedeker, der den ersten Reiseführer verfasst hatte und den Begriff ›Erbsenzähler‹ geprägt hatte, weil er beim Stufenzählen Erbsen in die Tasche gesteckt hat? Er heftete den Zettel wieder an seinen alten Platz.
So ging es mit nahezu allen Gedanken: zwei Begriffe, die auf den ersten Blick nichts gemein hatten, lieferten eine Idee, einen Einfall oder eine Erinnerung. Kombinierte er sie anders, entstand etwas Neues daraus. Aber etwas war anders geworden: während im Kopf alles wild durcheinander ging, blieb es an den Wänden geordnet. Er konnte jederzeit einen Schritt zurücktreten, um einen Blick auf das Ganze zu bekommen. Er konnte einen Zettel versuchsweise an eine andere Position bringen und daraus eine neue Idee formen. Wenn sie ihm nicht gefiel, kam der Zettel wieder weg. So viele Möglichkeiten, so viele neue Ideen im Handumdrehen!
Der Morgen dämmerte. Die Sonne schien zaghaft durch das weit geöffnete Fenster in ein leeres Zimmer. Ein leises Rascheln erfüllte die Luft, wenn der Wind eine Runde durch dem Raum drehte und hin und wieder einen Klebezettel sacht von der Wand zupfte. Auf dem Boden sammelten sich die Gedanken in kleinen bunten Häufchen, und manchmal klang es wie ein papiernes Seufzen, das manche Menschen unbewusst ausstoßen, wenn sie einen guten Einfall haben. Ab und zu flatterte ein buntes Stück Papier aus dem Gedankengebäude, landete auf dem Gehweg oder zwischen den Ästen der Hecke, wo vorbei eilende Menschen manchmal kurz inne hielten und sich danach bückten, um Gedanken zu lesen.
Kennt ihr die Szene aus dem Film »Corpse Bride« von Tim Burton, wo sich die Braut gegen Ende des Films mit einem Seufzer in lauter Schmetterlinge auflöst? Diese Bild hatte ich vor Augen, als ich diesen Text schrieb.