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Der Einlassstempel

Wieder muss ich vorausschicken, dass alle Namen in der folgenden Geschichte erfunden sind.

Ich hatte mich mit Stephi verabredet, und nach einem schönen langen Nachmittag in der Stadt ließen wir den Abend in einer kleinen Bar ausklingen. Dort war es ziemlich voll geworden, und die Gäste versuchten, sich über die laute Musik hinweg zu unterhalten, was für einen nicht unerheblichen Hintergrundlärm sorgte.

Dazu muss man wissen, dass es mir schwerfällt, laute Musik und Gesprächslärm komplett auszublenden. Ich muss mich dann immer sehr auf mein Gegenüber konzentrieren, denn mein Gehirn neigt dazu, bei Reizüberflutung in eine Art »stand by«-Modus zu wechseln. Die Geräusche legen sich dann wie ein Kokon um mein Bewusstsein, und meine Gedanken stülpen sich nach innen. Das fühlt sich eigentlich sehr heimelig an, ist aber denkbar ungeeignet, um zum Beispiel Stephis Ausführungen im Detail zu folgen und an den richtigen Stellen die richtigen Antworten geben zu können.

Wir ließen nun also den Tag Revue passieren, und ich bemühte mich, Stephis Gedankensprüngen zu folgen. Die Farbe eines Mantels im Schaufenster erinnerte sie an eine Studienkollegin, deren damaliger Freund einen Bademantel in genau der gleichen Farbe hatte, und der hing immer noch mit den gleichen Gestalten herum (der Ex-Freund, nicht der Bademantel) wie der Ex von einer, die …

Dieser Erzählstrom wurde plötzlich von einem Mann unterbrochen, der an unseren Tisch kam und fragte, ob er sich kurz zu uns setzen dürfe. Er warte auf einen Bekannten, und alle anderen Plätze seien belegt. Aus den bekannten Gründen bleibt er hier namenlos. Stephi nutzte die Gunst der Stunde und die Tatsache, einen unverbrauchten und damit vermutlich gesprächigeren Menschen am Tisch zu haben. Ich freute mich über die Abwechslung und die Tatsache, jetzt nicht mehr mit vollster Konzentration den freien Assoziationen lauschen zu müssen, und schaltete gedanklich zwei Stufen herunter. Solange er nicht anfing, Stephi und mich anzuflirten, war mir alles recht.

Der Mann war etwa so alt wie wir und machte (nach einigen Umwegen und interessanten Abzweigungen im Ausbildungsweg) gerade seinen Master in einem Fach, das so ungewöhnlich ist, dass ich es hier nicht erwähne, um unter dem Radar von Stephis Internetrecherchen zu bleiben. Innerhalb weniger Minuten hatte Stephi ihm seinen Werdegang und seine Familienverhältnisse entlockt. Als er noch sehr klein gewesen war, war sein Vater verunglückt, daher waren er und seine ältere Schwester hauptsächlich bei den Großeltern aufgewachsen, während die Mutter tagsüber in der Arbeit gewesen war, um die Familie zu versorgen.

Nachdem sie seinen Werdegang in groben Zügen in Erfahrung gebracht hatte, entschuldigte sich Stephi kurz und ging zur Toilette. Ich war mittlerweile so in der Rolle des passiven Beobachters aufgegangen, dass ich einfach still da saß und unverwandt auf einen kreisrunden Fleck starrte, der auf dem Handgelenk des Mannes zu sehen war. Die Form erinnerte mich an einen Stempel, den man früher in Clubs oder bei Konzerten bekam, wenn man kurz frische Luft schnappen wollte.

»Ja, das sieht aus wie ein Einlassstempel, und ich glaube, das ist es auch«, erwiderte er, scheinbar meine Gedanken lesend.

Ich entschuldigte mich für mein Gestarre, aber er grinste nur und fuhr fort:

»Als mein Vater bei dem Autounfall uns Leben kam, war ich auch in dem Auto. Ich war noch sehr jung und kann mich nicht mehr daran erinnern. Aber diese Narbe hier« – er zeigte auf die entsprechende Stelle – »ist damals entstanden, in dem brennenden Auto. Ich musste reanimiert werden, und mich konnten sie tatsächlich wieder zurückholen. Sonst wäre ich ja nicht hier.«

Ich nickte nur. Was sollte ich auch dazu sagen?

»Ich glaube eigentlich nicht an Zufall oder Vorsehung, aber viele Jahre später habe ich einen Peanuts-Comic entdeckt, datiert auf den 31. Mai 1993 – exakt den Tag, an dem der Unfall passiert ist. Kennst du die Peanuts? Charlie Brown, Snoopy, Linus?«

Ich nickte und ergänzte: »Schroeder, Lucy, Peppermint Patty. Ja, kenne ich!«

»In dem Comic fragt Linus, ob man nach dem Tod eigentlich wieder zurückkommen darf ins Leben, und Charlie Brown antwortet darauf sinngemäß: Ja, aber nur, wenn man sich vorher einen Stempel geholt hat.«

Er hielt die Hand hoch und fuhr fort:

»Dies ist wohl der Stempel, den mir ein glühendes Autoteil verpasst hat. Deswegen durfte ich wieder zurück. Irre, oder?«

Wieder nickte ich, sprachlos.

Eine Männerhand landete auf seiner Schulter.

»Da bist du! Komm, wir müssen los, sind schon spät dran.«

Der Bekannte, auf den der Mann gewartet hatte, war in die Bar gekommen und nickte mir einen stummen Gruß zu.

»Tut mir leid, die Unterhaltung sprengen zu müssen, aber …«

Er machte eine Bewegung Richtung Handgelenk, um zu signalisieren, dass es nun dringend an der Zeit sei, aufzubrechen.

Ich nickte, völlig überwältigt von all den Informationen, die auf mich einströmten.

»Liebe Grüße an Stephi!«, rief mir der Mann noch im Hinausgehen zu, dann waren sie verschwunden.

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