Ich hatte Stephi schon ewig nicht mehr gesehen. Während des Studiums hatten wir zusammen in einer WG gewohnt, aber danach den Kontakt verloren. Bis sie sich vor ein paar Tagen wieder mal gemeldet hatte. Sie sei beruflich wieder in ›unserer‹ Stadt, ob wir uns treffen wollten?
Nun saßen wir beide in dem Café, in dem wir als Studentinnen öfter einen Nachmittag verbracht hatten. Stephi war in ihrem Redeschwall kaum zu bremsen. Sie wusste über jeden unserer gemeinsamen Freunde und Kommilitonen genauestens Bescheid, was sie oder er gerade beruflich und privat so machte, und hielt es für ihre Pflicht, mich auf dem Laufenden zu halten.
Dazu muss man wissen, dass Stephi in Wirklichkeit anders heißt. Sie hat einen etwas ausgefallenen Namen und würde bei ihrem morgendlichen Routine-Suchmaschinenbefragung vermutlich sofort auf diesen Beitrag stoßen. Dann würde sie Dinge über mich erfahren, die mir unangenehm wären. Nicht, weil sie sie dann weiß, sondern weil sie durch Stephi und ihr Netzwerk dann eventuell unbedacht bei anderen landen. Sie erzählt mir alles, was sie von anderen weiß. Es ist nicht auszuschließen, dass andere im Gegenzug über die neuesten Infos in Kenntnis gesetzt werden, die mich betreffen. Ich habe den Namen gewählt, weil ich eine echte Stephi kenne, die sehr viel Wert darauf legt, dass man auch die Abkürzung ihres vollen Namens mit ph und nicht mit Doppel-f schreibt. Die Stephi, um die es hier geht, ist genauso heikel, was ihren Namen betrifft.
Ich verrate auch nicht, in welcher Branche sie arbeitet, aber ihr Job bringt mit sich, dass sie viel im In- und Ausland unterwegs ist. Sie kann auf subtile Art und Weise nahezu jeden von dem überzeugen, was sie für das Richtige hält. Somit wäre sie eigentlich in der Politik gut aufgehoben, aber ich glaube, in ihrer Firma wissen sie es zu schätzen, dass sie diesen Weg nicht eingeschlagen hat und stattdessen für das Wohl der Firma am Kunden Überzeugungsarbeit leistet.
Ich freute mich tatsächlich, Stephi wiederzusehen, immerhin hatten wir in der WG einiges gemeinsam erlebt, was uns damals zusammengeschweißt hat. Aber wie schon damals überredete sie mich zu einem Glas Sekt zu unserem späten Frühstück, obwohl die Medikamente, die ich gerade einnehmen muss, um ohne Panikattacken durch den Tag zu kommen, sich nicht mit Alkohol vertragen. Das wollte ich ihr aber – wie oben angedeutet – nicht direkt auf die Nase binden und versuchte es mit ein paar unspezifischen und halbherzigen Einwänden, die sie selbstverständlich nicht gelten ließ.
Wie sie die Zeit findet, ihr Netz auszuspannen und alle möglichen Informationen über alle möglichen Menschen zu sammeln, die ihr mal über den Weg gelaufen sind, bleibt mir ein Rätsel. Aber ich erfuhr, dass der Freund, den sie zu unserer WG-Zeit hatte (›nicht der blasse, der zählt eigentlich nicht, das war ja nur kurz, sondern der gutaussehende Blonde‹) und der wegen einer anderen mit ihr Schluss gemacht hatte, diese tatsächlich geheiratet und mit ihr eine Tochter hatte, nun aber seit zwei Jahren geschieden sei.
Außerdem war ihre Mutter vor einem halben Jahr gestorben, und obwohl es eine Erlösung für die alte Dame war (schon während des Studiums war sie schwer krank gewesen), fiel es Stephi immer noch schwer, sich damit abzufinden. Wenn man Stephi nur oberflächlich kennt, steht das in krassem Widerspruch zu ihrer Persönlichkeit, die eine Unerschütterlichkeit und Zielstrebigkeit ausstrahlt, die ich nur selten bei anderen Menschen beobachten konnte. Aber während des Studiums lernte ich Stephi auch von ihrer verletzlichen Seite kennen, und das war einer der Gründe gewesen, warum sie mir so sympathisch geworden war.
Irgendwann blickte Stephi auf ihr Handy und meinte dann, dass sie leider schon wieder zum nächsten Termin müsse. Wir verabschiedeten uns herzlich und versprachen, in Kontakt zu bleiben und nicht wieder fünf Jahre verstreichen zu lassen. Sie bot mir noch an, mich in ihrem Firmenwagen irgendwo absetzen zu können, aber ich lehnte dankend ab. Na dann – und weg war sie.
Mein Gehirn schien in meinem Kopf langsam hin und her zu schaukeln. Entweder lag es an dem Sekt und den Tabletten, oder an der massiven Woge an Infos und Fakten, die über mich geschwappt war. Vermutlich beides. Die frische Luft tat gut, aber ein Blick in den mittlerweile bewölkten Himmel verhieß nichts Gutes. Dass ich Angst für Stürmen habe, hatte ich an anderer Stelle schon berichtet. Für den heutigen Tag war kein Sturm gemeldet, aber für Regen war ich auch nicht passend ausgerüstet.
Als ob sie auf mich gewartet hätten, öffneten die Wolken die Schleusentore, und dicke Tropfen prasselten aufs Kopfsteinpflaster. Stephi war natürlich schon über alle Berge, im Nachhinein wäre es gar nicht dumm gewesen, wenn sie mich beim Bahnhof abgesetzt hätte. Dort hätte ich im Trockenen auf den nächsten Zug warten können. Wäre, hätte – Chance verpasst.
Ein Torbogen duckte sich zwischen die imposanten Fassaden zweier Altstadthäuser, und ich lief dorthin, um mich unterzustellen. Das Pflaster war in Nullkommanichts rutschig geworden, und einmal wäre ich fast hingefallen, aber nun stand ich geschützt im Halbdunkel des Torbogens, der den Anfang einer schmalen Passage zwischen den Häusern bildete. Im mittleren Bereich wurde der Durchgang breiter und bildete eine Art Innenhof, verengte sich dann nach hinten und endete an einer Querstraße, die parallel zu dem Platz verlief, an dessen gegenüberliegender Breitseite das Café lag.
Den Durchgang hatten wir früher öfter benutzt, um den Weg abzukürzen, aber mir war noch nie vorher aufgefallen, dass sich direkt in dem gemauerten Bogen eine kleine Tür befand. Der Laden war mit dicken alten Lederbüchern gefüllt, und ein schwacher, aber einladender Lichtschein sickerte in die dunkle Passage.
Ich mag Bücher sehr gerne, und wenn ich schon darauf warten musste, dass der Regen nachließ, konnte ich das auch mit ein bisschen Lektüre verbinden. Vorsichtig drückte ich die Tür auf. Ein leises Klingeln verriet, dass ich eintrat. Am Tresen stand ein alter Mann, der die Ledereinbände mit einem Lappen abrieb und die Bücher zu Stapeln sortierte. Er hielt inne und blickte mich an:
»Na, mein Kind, nicht das tollste Wetter für einen Stadtbummel, wie?«
Das ich die Anrede Kind nicht mag, habe ich schon einmal erwähnt, aber seltsamerweise störte es mich auch hier nicht.
Er wartete gar nicht ab, ob ich zu einer Antwort ansetzen würde – und mir fiel auf die Schnelle auch gar nichts ein, was ich hätte erwidern sollen – und hob eine Hand zum Ohr. Ein heiseres Pfeifen erklang von weiter hinten.
»Teewasser ist fertig. Auch eine Tasse?«
Ich nickte automatisch. Dann wurde mir bewusst, dass ich recht unhöflich wirken musste, so schweigsam und verwirrt, wie ich da stand.
»Gerne – wenn es Ihnen nichts ausmacht?«
»Ist genug für alle da«, brummte er freundlich und fuhr fort, die Bücherrücken zu polieren.
Ein Mädchen von vielleicht 14, 15 Jahren mit einem hellroten Lockenschopf kam plötzlich aus einem Durchgang hinter dem Tresen. Sie grinste mich an und legte ein neues Buch auf den Tresen. Der alte Mann drehte sich zu ihr und sagte nur:
»Drei Tassen.«
Dann wandte er sich zu mir und raunte:
»Ist gleich fertig.«
»D-danke.«
Das Mädchen eilte davon. Leises Klirren und Klappern war zu hören. Ich blickte mich in dem Raum um. Überall waren alte Regale aus dunklem Holz an den Wänden angebracht, auf denen in Leder gebundene Bücher in den verschiedensten Formaten standen. Manche Fächer quollen fast über, denn dort waren die Bücher nicht nur säuberlich senkrecht hineingestellt worden, sondern in den Zwischenraum bis zum nächsten Fach auch quer daraufgelegt worden, sodass die Regalabschnitte nahezu lückenlos gefüllt waren. Auf den Buchrücken waren Zahlen und Buchstaben zu erkennen, aber keine Titel, die mir vertraut waren.
Ich blickte zum Tresen. Der alte Mann polierte weiter und schien keine Notiz von mir zu nehmen. Jetzt erst fiel mir das Schild auf, das dahinter angebracht war: Archiv stand darauf. Darunter, in kleinerer Schrift: Inh.: C. H. Rohn – seit. Die Jahreszahl wurde leider von mehreren dicken Büchern verdeckt. Wofür das C wohl stand? Christian? Carl?
Neugierig musterte ich den Mann. Kennt ihr das Phänomen, dass sich mit zunehmendem Alter Männer und Frauen wieder ähnlicher werden? So sehr, dass man auf andere Hinweise angewiesen ist, um zweifelsfrei festmachen zu können, ob es sich um einen alten Mann oder eine alte Frau handelt? Die Stimmlage war heiser und weder sehr tief noch sehr hoch, lieferte also keinen sicheren Anhaltspunkt. Die Schürze war aus Leder und verdeckte bis auf die Ärmel eines Leinenhemdes den Rest der Gestalt. Brust und Bauch bildeten eine sanfte homogene Wölbung, die aber keinerlei Rückschlüsse zuließ. Die Haare – nun überwiegend grau – waren wohl einmal rotbraun gewesen, gelockt, nicht zu kurz, nicht zu lang, und kein Hinweis auf lichte Stellen. Keine Dauerwelle oder ein geblümter Schurz, aber auch keine Bartstoppeln oder buschige Augenbrauen, die man fast bis zu den Ohren hätte zwirbeln können. Hm. Das C könnte also auch für Carla stehen. Oder Christiane. Oder der Inhaber hatte das Geschäft von Vater oder Mutter übernommen und hieß sowieso ganz anders.
Aus dem Hinterzimmer kam das Mädchen zurück. Sie brachte zwei Teetassen auf einem Tablett herein. Die erste stellte sie zu dem alten Menschen, dann kam sie zu mir. Sie lächelte freundlich und sagte in einer hellen Stimme etwas zu mir, das ich nicht verstand – und auch keiner mir bekannten Sprache zuordnen konnte.
»Entschuldigung, ich – verstehe – nicht.«
Das schien sie nicht weiter zu stören, denn sie plauderte munter weiter, nickte mir dann freundlich zu und verschwand wieder mit dem nun leeren Tablett. Etwas hilflos blickte ich zu dem alten Menschen, der an seinem Tee nippte und sich dann wieder an die Arbeit machte.
Vorsichtig trank ich einen Schluck. Der Tee war süß, heiß und gut, und die Wärme breitete sich vom Bauch über den ganzen Körper aus. Ich entspannte mich und nahm noch einen beherzten Schluck.
Die Bücherrücken mit den Buchstaben und Zahlen darauf bildeten also ein Archiv, aber mir war nicht klar, was darin archiviert wurde. Ich wandte mich an die Person hinter dem Tresen.
»Gehört das Archiv Ihnen? Ist das Ihr Name auf dem Schild?«
Meine Frage wurde mit einem Nicken und einem unartikulierten Brummlaut quittiert. Ich hätte als Nächstes fragen wollen, für was das C steht, aber die knappe Reaktion schüchterte mich ehrlich gesagt etwas ein, daher beließ ich es dabei.
»Und was archivieren Sie hier?«
»Weltlinien.«
Weltlinien? Mit der knappen Antwort konnte ich nichts anfangen, aber bevor ich nachhaken konnte, kam das Mädchen zurück. In der einen Hand hielt sie ihre Teetasse, in der anderen ein weiteres Buch. Sie erzählte wieder etwas in dieser mir völlig unverständlichen Sprache. Der Archivar (ich hatte beschlossen, dass die meisten Indizien für mich dafür sprachen, dass es sich um einen Mann handelte) nickte kurz und brummte etwas, worauf sie grinsend den Raum verließ.
Der Mann klappte das Buch auf, das er gerade bekommen hatte, und blätterte darin herum. Dann wandte er sich zu mir.
»Kennst du Einstein, mein Kind?«
Ich nickte.
»Einstein hat die Welt in einzelne Punkte zerlegt, die zum Beispiel mich oder dich darstellen. Wir beide sind hier am selben Ort zur selben Zeit. Weil die Zeit vergeht, während wir hier Tee trinken, bewegen wir uns nicht vom Fleck, aber trotzdem durch die Zeit. Das ist eine Weltline. Jeder von uns hat eine, und wenn wir jemand anderem begegnen, kreuzen sich die Weltlinien. Dadurch kann man alles miteinander in Beziehung setzen, in dem man den Linien folgt und die Kreuzungen beachtet.«
Ich war verwirrt. Die Erklärung konnte ich nachvollziehen, aber wie sollten diese Daten in Büchern landen?
»Zum Beispiel hast du dich vorhin mit Stephi getroffen, und in dem Café saß an einem der Nebentische ein Mann.«
Ich nickte wieder.
Der Mann war mir aufgefallen, weil er einen markanten Vollbart hatte und mir irgendwie bekannt vorgekommen war. Allerdings hatte ich nicht herausfinden können, an wen er mich erinnert hatte. Außerdem hatte Stephi so viel zu berichten gewusst, dass ich ihn irgendwann schlicht vergessen hatte. Beim Zahlen war er jedenfalls nicht mehr da gewesen.
Der Archivar war mittlerweile nach vorne gekommen und suchte in einem der Regale nach einem Buch, zog es heraus und schlug es auf. Er fuhr mit dem Finger über die Seite, blätterte ein paar Seiten nach vorne und grinste dann.
»Der Mann ist Ben, der Bruder von Anna, deiner besten Freundin im Kindergarten und in der Grundschule.«
Richtig, die Augen! In Annas Familie hatten alle ganz besondere hellblaue Augen, und die Augen waren das einzige Merkmal bei dem Mann gewesen, das trotz seiner üppigen Gesichtsbehaarung klar zu erkennen gewesen war. Ich war verblüfft.
»Aber wie haben sie das so schnell gefunden?«
Ich deutete um mich.
»Hier stehen doch Unmengen von Büchern, und Anna habe ich seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
»Zweiundzwanzig. Aber eigentlich ist es leicht. Ich gehe einfach von meiner Weltlinie aus, und weil du momentan auch hier bist, ist deine Linie einfach zu finden. Ich muss nur deine Linie zurückverfolgen, dann sehe ich die Kreuzungspunkte mit Stephi und Ben. Bens Linie kreuzt sich zweiundzwanzig Jahre früher öfter mit deiner, weil du nachmittags nach der Schule regelmäßig bei Anna warst.«
Der Archivar steckte das Buch zurück und ging wieder hinter den Tresen. Mir kam das alles unwirklich vor, aber so, wie es der alte Mann beschrieben hatte, klang es absolut plausibel.
»Aber wo kommen denn die ganzen Bücher eigentlich her?«
In dem Moment kam das Mädchen wieder herein. In der Hand hielt es ein neues Buch, und wieder sprach sie in einer schnellen Silbenfolge irgendetwas, das ich nicht verstand. Es fühlt sich seltsam an, wenn man einer Unterhaltung überhaupt nicht folgen kann, weil nicht einmal einzelne Bruchstücke des Gesagten vertraut klingen. Aber es musste verständlich sein, denn der Mann brummte etwas und nickte wieder.
Das Mädchen wandte sich an mich und sagte etwas zu mir. Weil ich sie nur fragend und leicht verzweifelt ansah, deutete sie erst auf ihre Tasse, dann auf mich und schließlich auf die Tasse, die ich in der Hand hielt. Vermutlich wollte sie wissen, ob ich frischen Tee wollte. Ich deutete auf meine Tasse und schüttelte den Kopf.
»Nein danke, ich habe noch Tee. Der schmeckt übrigens sehr gut.«
Ihr Lächeln wuchs in die Breite, vermutlich hatte sie mich verstanden. Sie sagte noch etwas und ging dann wieder hinaus.
Ich musste an Stephi und den Tod ihrer Mutter denken.
»Und was ist, wenn man stirbt?«
»Wenn du verbrannt wirst, verteilen sich die meisten Bestandteile in den Verbrennungsgasen, die Asche wiegt ja nicht mehr viel. Bei einer normalen Bestattung zerlegen dich die Kleinstlebewesen im Boden und tragen die Nährstoffe hierhin und dorthin. Das alles nachzuvollziehen und zu protokollieren würde jedes Archiv sprengen. Aber die Linie, die dich als Mensch beschreibt, die endet dann.«
Er prüfte den Einband eines Buches kritisch und legte es dann zur Seite.
»Aber damit endet nicht alles. Dich gibt es dann zwar nicht mehr, und deine Geschichte ist zu Ende. Und irgendwann enden auch die Linien der Menschen, die dich gekannt haben und noch wissen, wer du warst. Aber alle Linien, die sich jemals mit deiner gekreuzt haben, kreuzen sich wieder mit anderen und so weiter. Und jede Kreuzung beeinflusst beide Linien. Ob das ein Passant ist, der dich anrempelt, oder die beste Freundin, die dir ein Geheimnis verrät. Und somit bildet deine Linie mit allen anderen ein dichtes Netz, das die Grundlage für die Zukunft bildet. Auch wenn sich dann längst niemand mehr an dich erinnern wird, so hast du an ihr mitgeschrieben. Und damit geht die Geschichte weiter.«
Das klang alles logisch und einfach, und trotzdem – die Vorstellung, dass die Schicksale aller Menschen miteinander verwoben sind und aufeinander aufbauen, war tröstlich und furchteinflößend zugleich. Was, wenn ich eine Entscheidung treffe, die für mich zwar unbedeutend ist, aber für die Zukunft katastrophale Folgen haben wird?
Als ob er meine Gedanken lesen könnte, fuhr der Alte fort:
»Wichtig ist, was man jetzt tut. Die Vorstellung, dass man die Zukunft negativ beeinflussen könnte, lastet wie eine ungeheure Verantwortung, aber die teilen sich alle Menschen, die jetzt leben. Außerdem kann sich keiner vorstellen, wie sich das Netz in der Zukunft weiterspinnt.«
Er nippte wieder am Tee.
»Wenn du den berühmten roten Knopf vor dir stehen hast und darauf drückst, sind die Folgen für die Zukunft klar, aber alles andere kannst du nicht wissen und damit ja auch nicht beeinflussen. Und im Bett liegen zu bleiben, um zu vermeiden, dass man das Falsche tut, kann auch ein Fehler sein, der in der Zukunft eklatante Folgen haben kann.«
Er grinste.
»Aber weil wir gerade bei Folgen sind: ich glaube, dass du nun zum Bahnhof gehen solltest, wenn du den nächsten Zug nicht verpassen willst. Der Regen hat mittlerweile aufgehört.«
»Woher wissen Sie …«
Er winkte mit dem Buch, das er vorhin zur Seite gelegt hatte.
»Du bist mit dem Zug gekommen, und es sieht so aus, als ob du am Abend noch einen Termin hast. Eine andere Linie hat eine Richtung eingeschlagen, die in ein paar Stunden direkt zu deiner Wohnung führt.«
Beides war richtig. Ich blickte auf die Uhr von meinem Handy. Den nächsten Zug würde ich noch erreichen, aber ich müsste mich beeilen. Panik stieg in mir auf. Ich trank schnell den Tee aus und stellte die Tasse auf den Tresen.
»Vielen Dank, der hat gutgetan.«
Ich öffnete die Tür, und die Glöckchen ertönten. Als ich mich noch einmal umdrehte, war der Lockenkopf wieder da. Das Mädchen sagte nichts, aber sie lächelte mich fröhlich an. Ich hob die Hand, und weil mir nichts besseres einfiel, sagte ich »Danke!« und ging hinaus.
Draußen war das Kopfsteinpflaster noch feucht und der Himmel bewölkt und grau, aber es regnete nicht mehr. Ich ging quer über den Platz in Richtung Bahnhof. Das seltsame Schwindelgefühl kehrte auf einen Schlag wieder zurück, war aber zum Glück nicht mehr so stark wie vorhin. Ich drehte mich noch einmal um. Der Durchgang lag im Halbdunkel, und man konnte von hier aus nicht erkennen, dass es da eine Tür und dahinter ein Archiv gab.
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