Ines erschrak, und auch von den akkurat geschnittenen Hecken flog eine Schar Vögel auf. Ein Reifenplatzer? Nein, mit dem Fahrrad war alles in Ordnung.
Erst jetzt bemerkte sie, wo sie war: die leicht abschüssige Straße durch das Reichenviertel der Stadt. Bis hierher war sie wie im Traum gefahren, ganz in ihrer eigenen Welt. Sie war bis über beide Ohren verliebt und kam gerade von dem Menschen, um den seit der letzten Nacht ständig die Gedanken kreisten. Was sie erlebt hatte, war immer noch ganz neu und irgendwie unbegreiflich. Welche sexuelle Ausrichtung würde das Erlebte am besten umfassen? Nach der letzten Nacht definitiv nicht mehr hetero.
Im Grunde war das doch wie mit der Musik (ah, die Musik – sie hatten die halbe Nacht über Bands und musikalische Vorlieben gesprochen und festgestellt, dass sie beide nahezu komplett auf einer Wellenlänge waren): man versuchte, die Musik in stilistische Schubladen zu packen, um sie greifbarer zu machen und irgendwie in ein Schema zu pressen. Gleichzeitig wollte fast jede Band gerade nicht in eine Schublade zu den anderen Gruppen gesteckt werden und erfand ein neues Genre, das dann wieder auf eine neue Schublade passte. Da wollte die nächste Band nicht rein, sie klangen ja anders. Und so weiter.
Und beim Menschen? Auch hier lag doch der verzweifelte Versuch vor, Schubladen zu erstellen: hetero-, homo-, bi-, pan-, a- und so weiter. Alle Menschen schön sortiert. Und dann noch Männlein und Weiblein. Ein schönes Raster, in das man alle prima reinstecken kann. Aber klappt das immer? Und warum eigentlich die ganze Sortiererei? Wenn sich zwei gefunden haben und alles passt, sind die Kategorien doch irrelevant: der Mensch, die Person, das Individuum, zu denen man sich hingezogen fühlt. Wird die Liebe erwidert: boom! Alle glücklich!
Jetzt am Vormittag war es trotz des strahlenden Sonnenscheins noch etwas kühl, und Strickweste und Sommerkleid sorgten für eine leichte Gänsehaut an den Beinen, das sich mit dem Kribbeln vermischte, das von der Wirbelsäule ausging und in Wellen durch den Körper pulsierte. Heute war keine Vorlesung, und Bedienen musste sie erst am Nachmittag.
Ines war jetzt fast im Zentrum der Altstadt angekommen, nahm schnittig die erste Kurve und wich elegant dem Müllwagen aus. Die Welt war schön!
Der neunte Teil der Alphabetgeschichten. Nach dem tragischen achten Teil geht es hier etwas sonniger weiter, obwohl das so gar nicht zum aktuellen Wetter passt 😉