Heinrich Kemmer saß am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Er hatte es verbockt, und das wusste er. Wussten beide. Seine Frau war schon vorgefahren, und er hatte vorgegeben, noch ein paar Unterlagen zusammensuchen zu müssen. Wie schlimm es war, wusste sie noch nicht. Aber sie würde es bald erfahren.
Es war riskant gewesen, das wusste er. Die Ehe, die Firma, der Druck. Bislang hatte er dem Ganzen standgehalten. Hatte sogar die Tatsache ertragen, dass er als Sündenbock dafür herhalten musste, dass die Ehe kinderlos blieb. Nur seine Frau wusste von seiner unehelichen Tochter, Wie es der wohl gerade ging? Sie müsste 15 oder 16 sein, hatte vielleicht gerade den ersten Freund? Er wusste es nicht. Und sie wusste nicht, dass er existierte.
Er hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, dass er in Gudrun verliebt gewesen war. Und eigentlich liebte er sie noch immer, zumindest den Teil von ihr, der sich hinter dem Panzer verbarg, den sie im Laufe der Jahre angelegt hatte. Wie eine Perle in einer Muschel, dachte er. Nein, genau andersherum. Die Muschel umhüllt ein Stück Dreck mit Perlmutt und schafft daraus etwas Schönes. Gudrun hingegen hat sich mit Schichten von Unnahbarkeit, Hartherzigkeit und Professionalität eingehüllt, und der schöne Kern war nun unsichtbar. Dieser Kern, die Gudrun, die er geheiratet hatte, war nicht mehr zu erkennen, aber ganz im Inneren noch da, das wusste er.
Heinrich nahm ein Blatt zur Hand. Auf dem Briefkopf prangte das Firmenemblem. Hartengardt – seit 1774. Wenn man in alten Dokumenten und Urkunden forschte und es mit den Verwandschaftsverhältnissen nicht allzu genau nahm, konnte man die Familienchronik tatsächlich so weit zurückverfolgen. Der große Aufschwung war allerdings erst wesentlich später gekommen. Die Kriege hatten ihr übriges getan, um die Stellung des Unternehmens zu festigen. Man musste nur aufs richtige Pferd setzen, hatte Gudruns Vater erklärt. Und schnell genug die Seiten wechseln, wenn nötig, hatte Heinrich in Gedanken ergänzt.
Er nahm seinen Füllfederhalter zur Hand und schrieb den Namen seiner Frau aufs Papier. Gudrun. Dann setzte er an, eine Entschuldigung aufs Papier zu bringen, überlegte es sich aber noch einmal anders. Er setzte drei Worte hinter ihren Namen, die selben Worte, die er ihr beim Antrag ins Ohr geflüstert hatte. Sorgfältig schraubte er die Kappe auf den Stift und legt ihn zur Seite. Das Blatt schob er weit von sich, es sollte lesbar bleiben.
Er atmete tief durch und schloss die Augen für einen kurzen Moment. Gudrun müsste jetzt bereits in der Firma sein. Lang würde es nicht mehr dauern, bis sie sich fragen würden, wo er denn bliebe. Gudrun, es tut mir leid. Er beugte sich nach unten, öffnete die unterste Schublade und entnahm ihr eine Pistole.
Der achte Teil der Alphabetgeschichten. Ich wünsche euch schöne und ruhige Feiertage, bevor noch einmal im alten Jahr ein neuer Buchstabe an die Reihe kommt!