Gudrun Hartengardt-Kemmer bog aus der Einfahrt und in die Straße ein. Sie liebte es, selbst Auto zu fahren; das war ein Stück Eigenständigkeit, dass ihr keiner nehmen konnte. Der Grund für die Fahrt selbst war allerdings nicht erfreulich. Es gab Ärger in der Firma. Großen Ärger. Und es sah so aus, als ob Heinrich der Grund dafür war.
Er hatte gewusst, was es bedeuten würde, in das Firmenimperium Hartengardt einzuheiraten. Und doch war der Druck vermutlich zu groß geworden. Hat sich zu irgendwelchen riskanten Geschäften hinreißen lassen. Die bucklige Verwandtschaft in der zweiten Reihe war sowieso schon in den Startlöchern gesessen, nachdem sich abgezeichnet hatte, dass aus ihrer Ehe kein direkter Nachfolger hervorgehen würde.
Gudrun fuhr zügig in den Kreisverkehr ein und hupte, weil ein Auto vor ihr im Schneckentempo durch den Kreisel schlich. Alles Träumer, kein Ziel vor Augen. Und was passiert, wenn man kein Ziel hat? Genau. Man erreicht nichts. Sie hatte das Ziel gehabt, die Firma noch erfolgreicher zu machen, und Heinrich war ein Teil des Planes gewesen, dieses Ziel zu erreichen. Und die Nachkommen ihrer Großtante hatten sich zum Ziel gesetzt, das Imperium zu übernehmen. Aber dazu gehört mehr als ein schicker Anzug und ein Master Of International Sonstwie. Aber das verstanden die jungen Leute nicht. Heinrich hatte das verstanden. Er hatte gewusst, dass er ein kleines, aber wichtiges Rad im Getriebe ist, das das Unternehmen am Laufen hielt. Dass er mit der Ehe eine Verpflichtung eingeht.
Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und verfluchte sich dafür. Es ging hier nicht um Gefühle, sondern um Geld, um viel Geld, und um eine Familientradition. Er hatte lange ausgehalten, 34 Jahre waren sie nun verheiratet. Und jetzt ist er eingeknickt, wie ein morscher Pfeiler.
Mittlerweile war sie auf der Umgehungsstraße, der sie bis zum Firmengelände folgen würde. Sie seufzte und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Der siebte Teil der Alphabetgeschichten. Nehmt euch Zeit zum Träumen – aber vielleicht nicht gerade im Kreisverkehr 😉