Fábio stand vor der Leinwand und betrachtete das Bild. Eric hatte sich darüber beschwert, dass man zu viele Details sah. Zu viele Falten. Das Gesicht war im Schatten der Hand verborgen, daher wussten nur sie beide, wer für die Aktstudie Modell gestanden hatte, aber die Haut an Bauch und Oberschenkeln war ihm zu faltig gewesen. Er wusste ja, wer auf dem Bild zu sehen war.
Fábio musste grinsen. Eric war 27 Jahre älter als er. Natürlich hatte er deshalb nicht mehr Fábios jugendhaften Körperbau, aber nichtsdestotrotz genug Energie und Leidenschaft bewahrt. Daran gab es nichts auszusetzen. Und der Altersunterschied hatte auch Vorteile: Erics Praxis lief seit vielen Jahren gut, und er konnte es sich leisten, seinen Liebhaber und dessen Kunst finanziell zu unterstützen. Im Gegenzug sorgte Fábio dafür, dass sich Eric wieder jung fühlte. Wenn nicht das Bild zu realistisch wäre …
Aus dem Grund hatte Fábio zum Pinsel gegriffen und die Schatten in den Hautfurchen mit hellerer Farbe entschärft und die eine oder andere ganz verschwinden lassen. Aus künstlerischer Sicht etwas langweiliger, aber wer zahlt, schafft an. Im Wohnzimmer roch es nach Ölfarbe, daher ging er zu einem der großen Panoramafenster, um es zu öffnen.
In dem Moment öffnete sich das automatische Garagentor bei der Villa der Nachbarn. Fábio wurde schlagartig bewusst, dass er unter seinem offenen Morgenmantel komplett nackt war. So malte er am liebsten, denn dann begegneten sich Maler und Modell unter gleichen Bedingungen, egal, ob er einen Menschen porträtierte oder versuchte, die Natur einzufangen, die sich – vor fremden Blicken geschützt – im Garten bot. Aber die Nachbarin, die mit ihrem SUV aus der Garage fuhr, blickte nicht einmal ansatzweise in seine Richtung. So schnell, wie sie die Einfahrt entlang brauste, hätte er sowieso nicht mehr reagieren können.
Naja, dann hätte die Alte mal was Knackigeres als ihren Gatten gesehen, dachte er bei sich. Er ging zur Küche, um sich einen Latte zu holen.
Der sechste Teil der Alphabetgeschichten. Egal, in welchem Outfit ihr zum Pinsel greift, verkühlt euch nicht, es ist Winter 🙂
Das tolle Erzählkonzept erinnert mich an Arthur Schnitzlers „Reigen“. Bin gespannt, ob Zoe auch mit Anne Bekanntschaft pflegt …
Und das Kreativoutfit meines Namensvetters ist auf jeden Fall mal einen Versuch wert 😉
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Arthur Schnitzlers „Reigen“ kenne ich bislang nicht, das werde ich mal lesen!
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