Es war an einem sonnigen Tag im Herbst. Ich war mit dem Auto auf dem Heimweg von der Arbeit. Was für ein Tag! Martha hatte mit ihrem Freund Schluss gemacht und war dementsprechend am Boden zerstört. Georg war so einfühlsam wie ein Ziegelstein und hatte seine immer gleiche Anmache zum Besten gegeben. Mich ließ er meistens in Ruhe, nachdem ich ihm einmal in aller Deutlichkeit meine Meinung gesagt hatte. Außer sein Hormonhaushalt war aus dem Gleichgewicht geraten. Dann stelzte er allem hinterher, was auch nur im Entferntesten weiblich wirkte, und ging auch mir wieder auf die Nerven. Heute allerdings wollte er Martha unbedingt von seinen Qualitäten überzeugen. Vollhonk.
Ich hatte befürchtet, der Tag würde nie enden, aber nun endlich: nach Hause! Die Sonne stand schon tief und brachte das Herbstlaub an den Bäumen zum Leuchten. Normalerweise fahre ich auf schnellstem Weg nach Hause und nehme deshalb die Autobahn, aber nicht an diesem Tag. Der Weg über die Landstraße dauert ein paar Minuten länger und führt durch den Wald. Im Winter eine Katastrophe, aber bei schönem Wetter einfach herrlich.
Auf den Straßen war wenig los. Erstaunlich, dass man mit dem Auto fahren kann, ohne viel nachdenken zu müssen. Der Kopf kann abschalten, und nach so einem bescheuerten Tag kommt man während der Fahrt schön langsam runter. Die Arbeit bleibt zurück, der Kopf wird frei, und wenn man daheim ankommt, sind die nervigen Erinnerungen schon fast verblasst. Ich war in Gedanken versunken und hätte deshalb fast den Mann übersehen, der hinter der Kurve am Fahrbahnrand stand und hektisch winkte.
Vor Schreck legte ich eine Vollbremsung hin. Mit quietschenden Reifen kam das Auto zum Stehen. Ich war wie versteinert und umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad. Den Motor hatte ich natürlich abgewürgt. Kurze Bestandsaufnahme: Ich lebe noch. Der Mann auch. Das Auto ist auch noch ganz. Puh. Das Adrenalin lockerte seinen Griff ein bisschen, und die ersten halbwegs klaren Gedanken nahmen langsam Form an: was macht der Mann auf der Fahrbahn? Warum winkt er herum und hält Leute an? Ist das eine Falle? Schon war der Mann zu mir gelaufen. Das Adrenalin stieg wieder an. Er kam zur Beifahrerseite und machte ein Zeichen, dass ich die Scheibe herunterlassen solle.
Wie ein Verbrecher sah er nicht aus, aber ich glaube, das tun die wenigsten. Er war schon älter und trug einen eleganten Anzug. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein älterer Geschäftsmann. Oder der Seniorchef einer expandierenden Firma. Auf alle Fälle seriös. Ich drückte den Knopf, und die Scheibe ging eine Handbreit nach unten. Erst mal nichts riskieren.
»Vielen Dank, dass Sie gehalten haben! Es tut mir sehr leid, dass ich Sie erschreckt habe. Wären Sie denn so gütig, mich ein Stück weit mitzunehmen? Mein Wagen –«
Er deutete in die betreffende Richtung. Eine teure Limousine stand an der Seite, an der Beifahrerseite vorne ziemlich verbeult. Vom Scheinwerfer war nicht mehr allzu viel übrig, und der rechte Vorderreifen stand in einem seltsam anmutenden Winkel zum Rest des Autos.
»– mein Wagen ist leider nicht mehr fahrtüchtig. Ich wollte mir schon ein Taxi rufen, aber mein Telefon ist mir dann auch noch aus der Hand gefallen, schauen Sie sich das an.«
Er hielt ein Handy mit komplett zersprungenem Display hoch. Hatte er wirklich ›Telefon‹ gesagt? Gefährlich wirkte er nicht auf mich, aber man hört ja immer wieder davon, dass besonders Frauen auf der Straße überfallen oder vergewaltigt werden, daher war ich noch etwas skeptisch. Warum will der mitfahren? Ich zog mein Handy heraus und wedelte damit in der Luft.
»Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen? Oder einen Abschleppwagen rufen?«
»Das ist nett von Ihnen, aber ich habe einen dringenden Termin. Wenn Sie jetzt ein Taxi rufen, dauert das bestimmt 20 Minuten, und dann komme ich definitiv zu spät. Ich muss tatsächlich nur bis zur nächsten Ortschaft, dort werde ich bereits erwartet. Bitte – können Sie mich mitnehmen?«
In seinem Blick lag etwas Verzweifeltes, Flehentliches. Gleichzeitig wirkte er etwas altmodisch, aber auf Anhieb auch sympathisch. Wenn er seinen Anzug ablegt und in seine Alltagsklamotten schlüpft, könnte er auch mit seinen Enkeln zum Kastaniensammeln gehen. Und ihnen am Abend eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen.
Ich gab meinem Herzen einen Ruck und hoffte, es nicht bald zu bereuen.
»Steigen Sie ein.«
»Haben Sie vielen Dank!«
Er öffnete die Tür und stieg zu mir ins Auto. Ein dezenter Duft eines teuren Rasierwassers füllte den Innenraum. Bevor ich losfuhr, blickte ich noch einmal in den Rückspiegel. Die Klappe des Kofferraums von seinem Wagen stand offen.
»Ihr Kofferraum ist offen. Wollen Sie den noch schließen, bevor wir losfahren?«
Er winkte ab.
»Dazu ist keine Zeit. Aber das soll nicht unser Problem sein.«
Ich fuhr los. Hatte er keine Angst, dass irgendjemand zufällig vorbeifahren und sein Auto ausräumen würde? Aber wenn er sich keine Sorgen darüber macht, konnte es mir ja auch egal sein.
»Wie ist das passiert?«, fragte ich ihn.
»Ich war wohl etwas unkonzentriert, und irgendein Tier ist vor mir über die Fahrbahn gesprungen. Ich habe das Steuer verrissen und bin gegen den Baum gefahren.«
Ich nickte. Unkonzentriert war ich auch, und beinahe hätte ich ihn überfahren. Das Adrenalin gab langsam die Kontrolle über meinen Körper ab, und ich war wieder zu einigermaßen klaren Gedanken fähig. Der Mann hatte einen Unfall. Hätte ich einen Arzt rufen sollen?
»Ist Ihnen eigentlich was passiert? Sollen wir zu einem Arzt oder so?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, mir geht es gut. Das Auto hat die Wucht gut abgefangen, außer einem tüchtigen Schrecken habe ich mir keine bleibenden Schäden zugezogen.«
»Sie waren allein im Auto?«
Er nickte. Auch er atmete nun ruhiger. Seine Anspannung war nun nicht mehr so offensichtlich, aber an seiner Körperhaltung konnte man dennoch gut ablesen, dass er immer noch unter Strom stand. Was das wohl für ein wichtiger Termin war? Ich wollte ihn aber nicht direkt darauf ansprechen, geht mich ja auch nichts an. Daher fragte ich beiläufig: »Fahren Sie diese Strecke öfter?«
Wieder nickte er. Ich wartete gespannt ein paar Sekunden ab, und das schien er wohl zu registrieren, denn er ergänzte: »Ja, und seit vielen Jahren unfallfrei. Immer dann, wenn es am allerwenigsten passt, passiert so etwas.«
»Ein Unfall passt einem wohl nie in den Terminplan. Aber wenigstens ist Ihnen nichts passiert.«
»Hm.«
Er hätte frontal gegen den Baum fahren können. In seinem Fahrzeug wäre er zwar vermutlich immer noch lebend davongekommen, aber sicher nicht unverletzt. Das alles schien ihm aber gar nicht wichtig zu sein. Vielleicht ist es einfach der Schock, der tief in seinen Knochen sitzt.
Sehr gesprächig schien er nicht zu sein. Ich an seiner Stelle würde wahrscheinlich einfach losplappern, von den Erlebnissen in der Arbeit, über die ruhige Fahrt, die Sonne und das schöne Herbstlaub, bis hin zu dem drastischen Moment, an dem ich aus dem Augenwinkel irgendetwas auf die Fahrbahn huschen sehe, dann den Knall. Ihn aber schienen weder sein kaputtes Auto noch sein Gesundheitszustand sonderlich zu interessieren.
Die Stille machte mich nervös. Mit jemandem im selben Raum zu sein und sich nur anzuschweigen, das halte ich nicht aus. Meine Haut beginnt dann immer zu kribbeln. Das beginnt bei den Händen, geht dann die Arme entlang und vom Rücken aus auf Kopf und Beine über.
So auch diesmal. Die Schultern juckten schon, daher mein letzter Versuch:
»Ich fahre hier recht selten, meistens nehme ich die Autobahn, weil es schneller geht. Aber im Herbst und bei einem so sonnigen Tag wie heute leuchtet das Herbstlaub einfach in den tollsten Farben.«
»Sie haben recht. Heute ist wirklich ein schöner Tag.« Er atmete tief ein und ergänzte dann: »Man lernt die einfachen Dinge oft erst dann zu schätzen, wenn es zu spät ist.«
»Wie meinen Sie das? Ich hoffe doch sehr, dass wir noch ein paar schöne Tage bekommen, bevor der Winter anbricht.«
Er schien einen Moment zu überlegen.
Dann erwiderte er: »Sicher. Ein paar schöne Tage. Aber die Sonne geht bald unter.«
Tatsächlich war es nun schon etwas dämmrig geworden. Die Landstraße führt durch einige bewaldete Flecken, und im Wald merkte man nun schon, dass der Tag bald vorbei sein würde. Sicherheitshalber drosselte ich meine Geschwindigkeit. Nicht dass uns noch mal ein Tier vors Auto läuft.
Bis jetzt hatte ich zum Glück keinen schweren Unfall miterlebt. Ein oder zwei kleine Blechschäden, die auch ärgerlich und im Grunde völlig unnötig waren. Einmal wollte ich beim Ausparken so viel Abstand wie möglich zwischen meinem Auto und einer älteren Dame mit drei oder vier Hunden an der Leine lassen, dass ich dann das Auto hinter mir gestreift habe.
Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn direkt vor uns ein Reh über die Fahrbahn laufen würde.
»Hier ist es!««, rief mein Beifahrer so plötzlich, dass ich vor Schreck zusammenzuckte. In einer breiten Abzweigung, die in einen Waldweg führt, stand ein großer, kastenförmiger, grauer Lieferwagen. Er sah aus wie ein Geldtransporter. Zwei Männer standen davor und schienen ungeduldig zu warten. Mich überkam ein mulmiges Gefühl. War das nun doch eine Falle?
»Bitte fahren Sie da rechts hinein!«
Ich gehorchte seinen Anweisungen und bog in den Waldweg ab, der von dem grauen Kasten komplett versperrt wurde.
Der Mann wandte sich zu mir.
»Haben Sie vielen Dank. Als kleine Wiedergutmachung für den Schrecken und als Unkostenpauschale möchte ich Ihnen das hier geben.«
Mit diesen Worten drückte er mir einen Geldschein in die Hand und hielt sie fest.
»Ich wünsche Ihnen noch sehr viele sonnige Herbsttage und weiterhin eine unfallfreie Fahrt. Leben Sie wohl.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, war er ausgestiegen. Ich öffnete meine Hand. Ein Hunderter war darin.
»Halt. Das ist zu viel! Ich …«
Aber der Mann winkte ab. Er schloss die Autotür und nickte mit lächelnd zu. Ist schon in Ordnung, schien sein Blick zu sagen.
Er ging zu den beiden Männern und schien ihnen wohl kurz zu berichten, was passiert war. Er gestikulierte in meine Richtung, und die beiden nickten, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Der eine reichte meinem Beifahrer nun einen Umhang, der so aussah wie die, die man beim Friseur um die Schultern gelegt bekommt. Der andere drückte ihm etwas Kleines, Schwarzes, Glänzendes in die Hand.
Irgendetwas gefiel mir nicht an der Situation. Hatten die drei einen Geldtransporter überfallen? Oder hatten sie das noch vor? Besser, ich würde weiterfahren. Rückwärts auf die Hauptstraße ist keine gute Idee, also versuchte ich, auf dem Waldweg zu wenden, ohne einen Baum dabei zu rammen. Oder den Motor wieder abzuwürgen.
Die beiden Männer öffneten nun die Ladefläche. Der Lieferwagen war innen mit Schaumstoff und Folie ausgekleidet. Es sah fast so aus, wie man sich die Wände in einer Gummizelle vorstellt. In der Mitte stand eine flache Metallkiste. Nein, das war keine Kiste, das war ein Sarg!
Ich bekam Panik und wollte nun so schnell wie möglich weg. Was haben die vor? Von links kamen ein paar Autos die Landstraße entlang, also musste ich warten. Auch das noch! Nervös trommelte ich auf das Lenkrad. Der Mann kletterte nun etwas mühsam in den Transporter. Was in aller Welt sollte das werden? Will ich das wirklich wissen?
Endlich war die Straße frei. Jetzt nur nicht den Motor abwürgen! Ich fuhr los und blickte ein letzte Mal in den Rückspiegel. Der Mann saß nun aufrecht in dem Sarg und hatte den Umhang um die Schultern gelegt. Der kleine schwarze Gegenstand war eine Pistole, die er sich nun an die Schläfe hielt. Er nickte den beiden Männern zu, und sie schlossen die Ladefläche.