»Bleiben Sie bitte, wo Sie sind. Lassen Sie wenn möglich das Mobiltelefon an. So können wir Sie gegebenenfalls orten. Wir schicken Leute vorbei, die Sie versorgen werden. Bitte haben Sie ein bisschen Geduld – Sie wissen ja, momentan sind unsere Teams überall im Einsatz.«
»In Ordnung. Vielen Dank. Ich werde warten.«
Der junge Mann legt auf. Er betrachtet das zersplitterte, blutbefleckte Display seines Mobiltelefons. Zum Glück hat es noch funktioniert. Mit links zu telefonieren ist gar nicht so einfach, wenn man Rechtshänder ist. Aber der rechte Arm ist momentan nicht zu gebrauchen. Die Blutung hat zwar aufgehört, aber jede Bewegung tut noch höllisch weh.
Er lässt den Arm mit dem Mobiltelefon sinken und betrachtet seine Umgebung. Es sitzt mit dem Rücken zu einer Kundenkasse in einem Supermarkt. Es riecht nach Rauch. Durch die zersprungenen Scheiben ist das Geschrei der Leute zu hören. Wenn ein Schuss fällt, zuckt er immer noch zusammen, und dann durchfährt ein gleißender Schmerz seine rechte Schulter.
Wie konnte es so weit kommen?
Es begann vor ein paar Jahren. Die meisten Geräte waren dauerhaft mit dem Internet verbunden. Das Netz der Dinge war aufgespannt. Jeder Toaster und jede Kaffeemaschine konnte bequem mit einer App gesteuert werden. Mehr noch: die Geräte kommunizierten untereinander. Die Kaffeemaschine bekam die Wasserhärte per Netz und die Kaffeesorte vom Supermarkt. Damit gab sie dem Toaster rechtzeitig ein Signal, sodass der Toast genau in dem Moment perfekt gebräunt nach oben sprang, als der Kaffee fertig war. Wie im Schlaraffenland, nur besser. Es war personalisiert.
Dann kam connec, und mit der Firma die Idee, die Daten sämtlicher Sensoren, Kameras, Mikrofone und so weiter anderweitig zu verknüpfen. Nicht für den perfekt getimten Toast, man dachte viel weiter. Die gesammelten Daten wurden zwar – offiziell zumindest und am Anfang wohl auch tatsächlich – anonymisiert verarbeitet, und man versuchte, daraus ein Stimmungsbild der Menschen in der Umgebung zu generieren, um bestimmte negative Aktionen im Vorfeld zu verhindern.
Das begann zuerst in ganz kleinem Rahmen. Suchte jemand im Internet nach Selbstmordmethoden, wurden zuerst positive Suchergebnisse im Browser angezeigt: Berichte von Leuten, die bestätigten, wie froh sie waren, dass ihr Selbstmordversuch gescheitert war. Natürlich auch Adressen und Telefonnummern von Beratungsstellen und so weiter. Aus der Playlist wurden eher die positiven, heiteren Songs gespielt. Musik, die die Stimmung tendenziell herunterzog, konnte ›aufgrund eines aktuellen Serverproblems‹ gerade leider nicht geladen werden.
Nach und nach wurde die Datenmenge größer und die maschinelle Intelligenz ausgereifter. Bis dato unvorstellbare Möglichkeiten taten sich auf. Der internetfähige Kühlschrank allein konnte vielleicht nur die Milch rechtzeitig nachbestellen – oder per Push-Nachricht mitteilen, dass die Zeit für sie abgelaufen war. Kombiniert mit den sensorischen Daten vom Herd, dem Bewegungsprofil vom Mobiltelefon und dem Auto beziehungsweise den Kameras auf öffentlichen Plätzen und im Nahverkehrsnetz und schließlich den Kontodaten konnten die Lebensgewohnheiten, die Ernährung und der Gesundheitszustand einer beliebigen Person recht genau ermittelt werden. Die Klangfarbe der Stimme wurde analysiert, beim Surfen im Netz oder bei Videoanrufen wurde per Innenkamera die Mimik erfasst.
Unregelmäßigkeiten im Tagesablauf wurden sehr genau registriert. Die Kaffeemaschine läuft zwei Stunden früher als gewöhnlich? Dann hat Person A wohl zum erstens etwas Außerplanmäßiges vor, zweitens einen alten, weil unvernetzten Wecker und drittens vermutlich nicht ausgeschlafen. Das Auto wurde mitten in der Nacht gestartet und befindet sich nun am Wohnort von Person B, mit der vor kurzem noch lange und heftig gestritten worden war? Davor wurde im Gartenhäuschen noch der Lichtschalter zwei Mal im Abstand von 36.2 Sekunden bedient und die Überwachungskamera auf dem Nachbargrundstück identifizierte ein längliches Objekt, das in den Kofferraum gepackt wurde? Der Innenraumluftsensor im Auto registriert Spuren von Benzin?
Anfangs gab es Fehlalarme. Der Mann, der seinem Bruder mitten in der Nacht die Motorsäge zurückgebracht hatte, weil der ihm vorgeworfen hatte, immer alles auszuleihen und nie zurückzubringen. Die Frau, die sich den Wecker mal zwei Stunden früher gestellt hatte, um den Sonnenaufgang in dem kleinen Wäldchen auf dem Hügel zu bewundern. Nur die Werbeanzeigen für einen neuen Wecker waren richtig platziert: die Frau kaufte sich tatsächlich ein paar Tage später einen neuen.
Mit der Zeit wurden die Algorithmen aber immer besser, immer zuverlässiger – und immer schneller. Kleinste Abweichungen vom Normalverhalten wurden detektiert und sofort die notwendigen Schritte eingeleitet, um Schlimmeres zu verhindern. Ein Sturz einer alleinstehenden alten Dame wurde vom Kühlschrank gemeldet, dessen Tür länger als zwei Minuten offenstand. Ein kurzer Abgleich mit den Gesundheitsdaten und eine Erschütterung, die das Telefon des Bewohners im Stockwerk darunter registrierte, obwohl der gerade damit telefonierte. Ein technologischer Durchbruch. Herzinfarkte wurden frühzeitig erkannt, viele Selbstmorde rechtzeitig verhindert, geplante Verbrechen vorab vereitelt. Fast wie in ›Minority Report‹, nur ohne Wahrsager in einem Wasserbecken. Keine subjektiven Unwägbarkeiten, nur objektive Sensordaten, Schaltkreise und Software.
Die Akzeptanz in der Bevölkerung war anfangs zwiespältig. Natürlich war es ein Segen, wenn es bei einem geplanten Einbruchdiebstahl blieb oder eine ältere Person rechtzeitig gefunden wurde, die in der eigenen Wohnung gestürzt war und aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen oder einen Krankenwagen rufen konnte. Dafür musste man in Kauf nehmen, ständig überwacht und analysiert zu werden. Ein Entkommen aus dem Netz war kaum möglich. Es gab wohl ein paar Orte, an denen keine vernetzten Geräte angebracht waren, aber das Mobiltelefon war sowieso fast überall dabei, und wer es vorsätzlich im Auto oder zu Hause liegen ließ, machte sich erst recht verdächtig und musste damit rechnen, von einem Sicherheitsbeamten angesprochen zu werden.
Daher wuchs die Zustimmung mit der Zeit, die kritischen Stimmen verstummten. Ein voller Erfolg, möchte man meinen.
Aber es kamen weitere Veränderungen, die zu Problemen führten. Der Mensch trifft seine Entscheidungen immer unbewusst, und erst wenn die Entscheidung feststeht, dann wird das Bewusstsein darüber ›informiert‹, wenn man so will. Die Tatsache, dass es sich genau andersherum anfühlt, ist ein raffinierter Schachzug des Gehirns, das die eigene zeitliche Wahrnehmung so weit verzerren kann, dass man an einen freien Willen glaubt.
Dadurch aber entstand bei den Leuten zunehmend der Eindruck, dass die Maschinen hellsehen konnten. Wieder andere waren sogar der Meinung, dass die Geräte den Menschen die Taten auf irgendeine unerklärliche Weise einflüstern und so manipulieren, um das System auf diese Art zu bestätigen. Vereinfacht gesagt: die Maschinen reden einem ein, man solle einen Mord begehen. Wenn sie einen schließlich so weit haben, verhindern sie dann genau diesen Mord. Damit ist das System natürlich perfekt bestätigt. Es war wie immer: sobald etwas passiert, das der Mensch nicht erklären kann (oder nicht als eigene Unzulänglichkeit akzeptieren will), sucht er nach spirituellen Lösungsansätzen oder konstruiert eine Verschwörungstheorie.
Daher war es keine allzu große Überraschung, dass sich bald Widerstand regte, der allerdings schnell im Keim erstickt wurde. Weil die ganze Kommunikation abgehört wurde, war es ja ein Leichtes, sowohl Einzeltäter als auch radikale Gruppierungen sofort aufzuspüren.
Firmenintern gab es einige Streitigkeiten deswegen. Psychologen wiesen auf die Problematik hin, die sich durch die als ›hellseherisch‹ wahrgenommene Überwachung ergaben. Sämtliche Einwände wurden aber damit abgetan, dass das Abfeuern einer Pistole nur eine Zehntelsekunde erfordert und daher die potentielle Rettung von Menschenleben keine Zeitverzögerung zuließe. Das durchaus plausible Argument, dass man in einer Zehntelsekunde keine Waffe kaufen kann, jeder Waffenkauf aber aufgezeichnet wird und sich ganz grundsätzlich ein Mord mehr als einen Wimpernschlag vorher ankündigt, wurde von der Firmenleitung ignoriert. Letzten Endes wäre jeder Fall, den das System zu spät detektiert, ein Fall zu viel.
Im Grunde lag der Firmenleitung aber sicher nichts viel an einem einzelnen Menschenleben. Die Regierung förderte das Programm mit gewaltigen Subventionen, und da musste das System einfach wasserdicht sein.
Der Widerstand legte sich – notgedrungen. Nicht aber die Unzufriedenheit.
Plötzlich und unerwartet kamen den Menschen, die sich von der Technik entmündigt fühlten, die Naturgewalten zu Hilfe: ein starkes Gewitter war bereits Tage zuvor angekündigt worden, doch die Heftigkeit, mit der es einzelne Landstriche traf, wurde gewaltig unterschätzt. Das Wetter ist nach wie vor ein komplexes System, das sich längerfristigen Voraussagen widersetzt. Vermutlich will das keiner hören, aber das Verhalten von Menschenmassen lässt sich im Normalfall leichter simulieren als das Wetter von übermorgen.
Nahezu gleichzeitig schlugen mehrere Blitze an strategisch ungünstigen Stellen ein (oder günstigen, je nach Standpunkt) und bewirkten einen Stromausfall in der Stadt. Die Zentrale von connec hat zwar für den Fall der Fälle eine unterbrechungsfreie Stromversorgung, damit die Server trotz Stromausfall weiterlaufen, aber entweder wurde die Elektronik vom Blitz beschädigt, oder es lag ein Bug in der Steuerung vor. Jedenfalls meldete ein Sensor den Stromausfall, ein anderer nicht, und die Notstromversorgung ›glaubte‹ nur dem zweiten Sensor. Damit waren die Server erst einmal schlagartig außer Betrieb. Ein paar Sekunden später fuhren sie wieder hoch, aber bis sich das Netz wieder lückenlos schließt, dauert es doch eine Weile. Außerdem waren ja einige Geräte tatsächlich ohne Strom.
Ein paar Leute nutzten die Gunst der Sekunde. Der halbherzige Versuch, eine Plastiktüte über eine Überwachungskamera zu stülpen, wurde nicht gleich durch herbeieilende Sicherheitskräfte (oder eine Warnung auf dem eigenen Mobiltelefon) unterbunden, und schon fing einer damit an, eine Kamera von der Wand zu reißen.
Auch wenn wir uns ständig einreden, wie kultiviert und intelligent wir doch sind: der Teil, der unser persönliches ›Ich‹ ausmacht und dafür sorgt, dass wir Rotwein bei 18°C trinken und Parmesan bevorzugen, der mindestens ein Jahr gereift ist, dass wir übers Wetter reden und über Schiller, dass wir uns bei der Essensausgabe an der Kantine brav anstellen und nicht handgreiflich werden, dieser Teil ist nur eine dünne Hülle, die unsere animalischen Instinkte und biochemischen, hormongesteuerten Prozesse überzieht, welche uns auch dann am Leben halten, wenn wir uns selbst nicht im Spiegel erkennen würden. Und das gesellschaftlich akzeptierte Miteinander beruht nicht auf dem tierischen Unterbau, sondern genau auf diesem dünnen Eis, dieser feinen Schicht, die uns zu Menschen macht. Wo es bricht, geht die Menschlichkeit schnell unter.
Als ein paar Minuten später der Strom wieder da war, hatte sich schon eine größere Gruppe von Leuten zusammengerottet und zog durch die Straßen. Elektronische Geräte wurden zerstört, Autos brannten, die Stadt war in Aufruhr. Das System mobilisierte in Windeseile Einsatzkräfte, geschädigte Autofahrer und Ladenbesitzer riefen die Polizei. Doch auch unter den Polizisten gab es Sympathisanten mit den Aufständischen, sie wechselten das Lager und schlossen sich der Protestbewegung an, so dass es bewaffnete Übergriffe auf beiden Seiten gab. Das Mobilfunknetz brach in kurzen Abständen immer wieder ein, weil zu viele Push-Benachrichtigungen gleichzeitig verschickt wurden (›Sie scheinen im Begriff zu sein, eine mutwillige Sachbeschädigung durchzuführen. Nach § 303 StGB ist das verboten und kann strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.‹). Die aufgestaute Wut entließ ich an allem, was der Meute in den Weg kam. Da half auch keine Kuschelrock-Playlist mehr.
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt sind. Der junge Mann im zerstörten Kaufhaus war gerade auf dem Weg nach Hause, als der Aufstand begann. Obwohl er den Brennpunkt des Geschehens bewusst mied, traf ihn von irgendwoher ein Schuss in die rechte Schulter, und nun kauert er an einer der demolierten Kassen und wartet auf den medizinischen Notdienst. Ein Gedanke durchzuckt ihn. Er greift in die Innentasche seiner Jacke und zieht mit schmerzverzerrtem Gesicht seine Arbeits-ID-Karte heraus. Normalerweise sollte er hier sicher sein, selbst wenn noch ein paar Leute vorbeikommen, aber falls er das Bewusstsein verliert und sie das hier finden, würde er vielleicht nie wieder aufwachen.
Er legt die Karte neben sich und versucht, mit einer Glasscherbe sein Foto und seinen Namen unkenntlich zu machen. Das ist mit einer Hand (noch dazu der linken) deutlich schwerer, denn die Karte rutscht immer wieder weg. Wenn er sein linkes Bein anwinkelt und mit dem Absatz die Karte am Boden festklemmt, geht es.
Mit gewaltiger Kraftanstrengung zieht er sich so weit hoch, dass er über den Rand der Kasse blicken kann. Es ist niemand im Supermarkt. Sehr gut. Er schleudert seine nun unkenntlich gemachte Karte so weit wie möglich in Richtung der umgestürzten Regale. Ein gleißender Schmerz flammt auf, und er ist kurz davor, tatsächlich ohnmächtig zu werden. Die Karte segelt wie ein Frisbee einige Meter weit und verschwindet hinter den Trümmern. Er lässt sich wieder sinken und atmet schwer.
Es wäre in seiner derzeitigen Verfassung sicher nicht von Vorteil, auf den ersten Blick als Mitarbeiter der Firma identifiziert zu werden, die mit ihrer gutgemeinten Technik hinter all dem steckt, was um ihn herum passiert ist: connec.
Diese Gedanken spielt jeder irgendwann auf seine Weise durch … wie konnte es nur so weit kommen!. Ob es ein zurück gibt? Ich glaube eher nicht…
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