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mutatis mutandis

Er freute sich, nach dem Lockdown endlich wieder mal leibhaftig in sein Büro gehen zu dürfen und die Kollegen wiederzusehen – wenn auch nur für einen Tag. Heute war Mittwoch, und für die beiden verbleibenden Arbeitstage waren dann schon wieder Videokonferenzen angesagt.

Etwas früher als üblich öffnete er die Bürotür. Er war zeitig losgefahren, um auf alle Fälle pünktlich zu sein. Und aus Vorfreude. Der Schreibtisch sah noch genau so aus, wie er ihn verlassen hatte. Nein, nicht ganz. Jemand hatte Staub gewischt und seine Unterlagen etwas säuberlicher geordnet. Er hätte nie gedacht, sich einmal so über den Anblick seines Arbeitsplatzes zu freuen.

Weil sonst keiner im Raum war, löste er die Maske vom Gesicht und ließ sie an seinem rechten Ohr baumeln. Er sog die Luft ein. Es roch abgestanden, und außerdem hing noch ein anderer Geruch in der Luft, den er nicht recht zuordnen konnte. Er ging zur Fensterreihe und kippte beide Fenster. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch. Den Computer schaltete er noch nicht ein. Stattdessen saß er einfach da und dachte über die vergangenen drei Monate nach.

Die Arbeit von zu Hause aus hatte ganz gut funktioniert, aber für ihn als Teamleiter war es trotzdem besser, wenn er vor Ort mit den Leuten sprechen konnte. Kleine Veränderungen im Tonfall, in der Körperhaltung und in der Mimik sagen manchmal mehr als tausend Worte, aber diese zusätzlichen Informationen kommen bei einer Videokonferenz kaum durch. Erstens sieht man nur das Gesicht und nicht den ganzen Gesprächspartner, zweitens hängt dann mal wieder das Netz, die Stimme klingt blechern, das Bild hängt eine Viertelsekunde hinterher – und schon stimmt nichts mehr, ist der Bezug zum Gegenüber weg, reduziert auf das gesprochene Wort.

Seine Hand wanderte an der Kante des Schreibtisches entlang. Aus einem Impuls heraus öffnete er die oberste Schublade. Textmarker, Kugelschreiber, ein vermutlich komplett eingetrocknetes Fläschchen Tipp-Ex – alles Remineszenzen an die Zeit, als das Büro noch etwas weniger papierlos war als heutzutage. Das Fach darunter bot theoretisch Platz für mehrere Aktenordner, aber meistens stand darin eine Wasserflasche und ab und an etwas zu Essen für die Mittagspause, wenn er wusste, dass er an dem Tag wohl keine Zeit – oder keine Lust – auf das Kantinenessen hatte. Darin befand sich ein in Aluminiumfolie gewickeltes Päckchen.

Die Leberkassemmel! So hieß das hier, und er konnte es mittlerweile so aussprechen, dass seine Kollegen nicht mehr feixten. Mike hatte sie ihm besorgt, und er hatte sie hier verstaut, um sie nach der Telefonkonferenz zu essen. Die dauerte dann länger, und dann wollte der Chef mit ihm sprechen, und dann … irgendwie musste er sie komplett vergessen haben. Genießbar war die nun leider nicht mehr, nach drei Monaten. Schade drum. Aber das erklärte wohl den eigentümlichen Geruch.

Er wollte nach ihr greifen, als er bemerkte, dass sich die Aluminiumfolie ganz leicht bewegte, so als würde das Päckchen atmen. Atmen? Blödsinn. Aber tatsächlich: ein kleiner Teil der Folie bewegte sich rhythmisch, wölbte sich um ein Winziges vor, zurück, vor, zurück, vor …

Er erschrak, als Moni, seine Kollegin, in der Tür stand und ihn begrüßte. Er glaubte, ein spitzbübisches Grinsen hinter der Maske erahnen zu können. Vermutlich hatte sie seinen Schrecken bemerkt, wollte vielleicht sogar genau das erreichen. Typisch Moni. Wie immer. Auch das hatte er vermisst. Sie teilte ihm noch mit, dass der Chef ihn kurz sprechen wollte, also schloss er die Klappe und pfriemelte sich die Schutzmaske wieder vors Gesicht.


Als er am Montag wieder zur Arbeit kam, fiel ihm das Aluminiumpäckchen wieder ein. Am Mittwoch war die Freude darüber, wieder im Büro zu sein, bei allen groß gewesen. Fast größer noch war der Mitteilungsdrang einiger Kollegen, sodass er jetzt über deren Privatleben und die Krankheitsgeschichten der kompletten Verwandtschaft während des Lockdown voll im Bilde war. Die Leberkassemmel aber, die er ja entsorgen wollte, hatte er vergessen. Er öffnete die Klappe und fand das Päckchen zerstört vor. Reste der Papierserviette lagen in kleinen Fetzen im Fach, und in der Alufolie klaffte ein großes Loch. Hatte die Putzfrau seinen Nachlass entsorgt? Aber dann hätte sie wohl auch die Folie weggeworfen. Er beugte sich tiefer, um das Fach genauer in Augenschein nehmen zu können, aber in dem Moment klingelte das Telefon.

Den Rest des Tages hatte er sein Fach und den Inhalt fast vergessen, aber als die Uhr das baldige Arbeitsende anzeigte, fiel es ihm wieder ein. Vorsichtig öffnete er die Klappe und spähte hinein. Die Papierfetzen waren verschwunden, und auch ein Teil der Aluminiumfolie fehlte nun. Dafür war ein leises Fiepen zu hören. Ein Tier, dass versehentlich eingeschlossen war und sich nun von seiner vergammelten Semmel hatte ernähren müssen?

Er nahm sein Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Vorsichtig ging er in die Hocke und leuchtete in das Fach. Was er sah, erschreckte ihn so, dass er fast nach hinten umgefallen wäre. Vor Schreck und Verblüffung stieß er einen gedämpften Schrei aus – und aus den Tiefen des Faches kam ein nicht minder aufgebrachtes, erschrockenes Quieken. In der hintersten Ecke kauerte ein Lebewesen, fast so groß wie eine Faust, und blickte ihn aus drei großen Augen an.

Weil keine akute Gefahr von dem Wesen auszugehen schien, beruhigte er sich und betrachtete es neugierig. Schön sah es nicht aus, die Haut war von einem blassen Rosa, an einigen Stellen wuchsen kleine braune Haarbüschel, und es wirkte wie ein flachgedrückter Ball, dem in seltsamen Winkeln Beine gewachsen waren. Er kniete sich nun hin und versuchte, das Wesen mit ruhiger Stimme weiter nach vorne zu locken, was ihm nach kurzer Zeit und mit einem alten Keks als Köder gelang (ebenfalls aus Vor-Lockdown-Zeiten, seitdem war er in keinem Café mehr gewesen).

Was nun? Die Kollegen waren schon gegangen, und er brachte es nicht übers Herz, das Lebewesen in seinen Schreibtisch einzuschließen. Das würde außerdem das Problem nicht lösen, sondern nur verschieben. Vorsichtshalber legte er die Maske an, dann streckte er vorsichtig die Hand nach dem Wesen aus, das nun tatsächlich behutsam und leise fiepend auf seine Handfläche krabbelte. Er war schwerer als gedacht, aber angenehm weich und warm. Es schloss die Augen, schmiegte sich in seine Handfläche und zog seine Stummelbeinchen an den Körper.

Es war nicht daran zu denken, damit aus dem Büro zu spazieren. Alle möglichen Leute könnten ihn sehen und Fragen stellen, Fragen, die er selbst nicht beantworten konnte. Warum er mit einem so hässlichen Teil herumliefe? Was das überhaupt sei? Dass er eine seltsame Zuneigung empfand, konnte und wollte er nicht erklären. Außerdem fühlte sich die Situation surreal an, wie ein Traum. Vermutlich sollte er das Gesundheitsamt anrufen. Oder die Firmenleitung. Wer war für so etwas eigentlich zuständig?

Stattdessen setzte er das Wesen vorsichtig in seine Arbeitstasche und gab ihm den Rest von dem Keks. Ein leises Schmatzen war zu hören. Nun möglichst schnell aus dem Gebäude, hoffentlich lief ihm keiner der Kollegen über den Weg.

Vor der Bürotür wäre er fast in Moni gelaufen. Sie hatte Ihren Mantel an, die Maske angelegt und ihre Tasche bei sich. Sie schien auf ihn gewartet zu haben. Er hatte Moni gern, aber ausgerechnet jetzt? Wie lange war sie hier schon gestanden? Hatte sie ihn beobachtet? Was hatte sie gesehen? Zu allem Übel drang jetzt auch noch ein deutlich vernehmbarer, klagender Laut aus seiner Tasche. Er suchte fieberhaft nach einer Erklärung, einer Entschuldigung, einer Ausrede, aber bevor er seinen Mund aufmachen konnte, sagte Moni leise »Ich hab auch eins« und hielt ihm ihr Handy vors Gesicht. Darauf war ein Wesen zu sehen, etwa so groß wie seines, aber mit einem einzelnen Auge an einer Art Stiel aus der Körpermitte heraus und kleinen tentakelähnlichen Beinchen. Außerdem war es bläulich.

»Auch von hier?«

Sie nickte. »Seit Freitag. Ein vergessener Tomate-Mozarella-Wrap. Und bei dir?«

»Eine Leberkassemmel.«

Sie nickte wieder, wissend. Als ob es die natürlichste Sache der Welt wäre, dass vergessene Lebensmittel innerhalb kürzester Zeit einen rasanten Evolutionsschub hinlegten.

»Martin aus der Personalabteilung hat auch eins. Bei ihm war’s Pizza. Sieht nett aus. Total zutraulich.«

Sein Kopf schien zu explodieren. Moni. Martin. Er selbst. Woher kamen diese Wesen? Warum entwickelten sie sich aus vergessenen Lebensmitteln? Steckte der Lockdown dahinter? Das Virus? Oder etwas ganz anderes? Moni schien die Fragen aus seinem Gesicht abzulesen. Sie zuckte mit den Schultern. Dann erschienen Lachfältchen um ihre Augen. Sie schien zu grinsen.

»Darf ich’s mal sehen?«

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