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Alphabetgeschichten: S

Sara stand unter der Dusche. Sie war sich nicht sicher, ob jemand an der Türe geklingelt hatte, aber das war ihr egal. Es war alles egal, völlig sinnlos. Sie weinte, und wenn jemand sie gefragt hätte, warum sie so traurig war, hätte sie es nicht erklären können. Aber es fragte keiner. Vielleicht war es die Einsamkeit? Sicher, sie hatte Bekannte, Kollegen, aber momentan kam ihr das alles oberflächlich und beliebig vor. Man traf sich, tauschte Belanglosigkeiten aus und ging seiner Wege, verrichtete sinnlose Arbeiten, ging anschließend heim, tauschte belanglose Texte auf den sozialen Medien, schaute sinnlose Filme und Serien, bis man vor dem Bildschirm einschlief. Am nächsten Morgen genau das Gleiche, immer und immer wieder.

An manchen Tagen war das nicht schlimm. Sie konnte damit umgehen. Sich ablenken. Sich einreden, dass die Arbeit erfüllend war, ihr Spaß machte, und im Grunde genommen stimmte das ja auch. Aber an anderen Tagen, so wie heute – da zeigte der Alltag seine unbarmherzige Fratze, und dahinter war nichts, nur Leere.

Vielleicht sollte sie Tamina anrufen. Man versteht eine Sache erst dann richtig, wenn man sie jemand anderem erklären muss, sagte sie immer. Tamina arbeitete in einem Labor an irgendwelchen Mikroorganismen. Gewissenhaft und geduldig bis zum Anschlag. Und ihr trotz der offensichtlichen Unterschiede sehr ähnlich. Zwillingsschwestern, auch wenn man das nicht auf den ersten Blick sah.

Tamina. Obwohl sie in der gleichen Stadt lebten, sahen sie sich ganz selten. Geburtstag. Weihnachten. Aber sonst? Warum war das eigentlich so? Lag es daran, dass man ja die Möglichkeit hatte, jemanden jederzeit zu treffen, und deswegen nicht groß planen wollte? Scheiterte es daran?

Mittlerweile waren die Tränen versiegt, es kam nichts mehr, obwohl ihr immer noch zum Heulen zumute war. Die Kehle schmerzte, und Sara blieb unter der Dusche stehen, weil es sowieso keinen Unterschied machte. Vielleicht wäre ein Anruf tatsächlich das Beste, heute Abend, wenn Tamina aus der Arbeit heimgekommen war. So lange würde sie unter der Dusche stehen bleiben.

Löste man sich eigentlich irgendwann auf, wenn man zu lange im warmen Wasser blieb? Eigentlich eine schöne Vorstellung, durch die Abflussrohre gespült zu werden, als Rinnsal in immer größere Wassermassen zu fließen, bis man vermutlich irgendwann im Meer landete, die ganze Erde umfloss, so stark verdünnt, dass man im Grunde nicht mehr messbar war, auch nicht mit den hochsensiblen Messgeräten in Taminas Labor. Aufgelöst, verschwunden.

Sara stand still da und genoss diese Vorstellung. Sie entspannte sich ein wenig und pinkelte den Tränen hinterher. Ein Anfang.


Der 19. Teil der Alphabetgeschichten. Manchmal ist einem unter der Dusche einfach nicht nach Singen zumute …

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